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Heimaturlaub – Roman von Joachim Geil

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75 Jahre Kriegsende (VI)

Dieter Thomas ist Anfang zwanzig, Leutnant, ein Soldat im Krieg, irgendwo an der Ostfront, 1944. Eine Verwundung bringt ihn ins Lazarett. Wieder genesen, hat er eine Woche Urlaub. Heimaturlaub. Wie schon so oft, fährt er dorthin, wo er ursprünglich herkommt, in die Pfalz, in den Kurort Bergzabern. Hier lebt viel Verwandtschaft, Großeltern, Tante Emmy, Onkel Gustav mit Tante Carla und den Kindern. In einem Nachbarort liegt das Grab seiner Mutter. Auch Heidi, die schöne Majorstochter, lebt in Bergzabern – ein Grund mehr für Dieter, die Pfalz zu besuchen.

Es könnten ein paar unbeschwerte Tage werden, bevor er zurück muss in den Krieg. Doch Joachim Geils atmosphärisch dichter Roman gibt einer wie auch immer gearteten Urlaubsstimmung von Anfang an keine Chance. Etwas Bedrohliches, Beklemmendes liegt in der Luft. Schon die Bahnfahrt in die Pfalz ist eine Tortur: eine schwüle Hitze, Dieter in die Uniform gezwängt, nicht einmal den obersten Knopf traut er sich zu öffnen.

„Der junge Soldat schwitzt aufrecht unter den Achseln. Wenn das keine bösen Ränder an der Uniform gibt. Wenn so eine Hitze ist, dann denkt man, denkt er jetzt, immer nur an die Hitze, da denkt man an nichts anderes, man ist ganz gefangen in der Hitze, in dem Raum, in dem man sitzt, in dem Triebwagen, in dem man schwitzt. Man schwitzt, und wie man schwitzt. Die Brühe steht einem überall, würde Tante Emmy jetzt sagen. Und wenn man in Urlaub fährt, dann will man auch an nicht viel denken. Da ist es gut, wenn die drückende Schwüle einen dumpf macht. Man denkt ans Wichtige: Schwimmbad, Erdbeeren, was Kühles trinken. Ach, wird das schön. Alles entspannt, die Kleinen, die spielen wollen. Erst mal ankommen, dann was trinken. Schatten und was trinken. Dann ab ins Schwimmbad. Eins nach dem anderen.“

Dass die wenigen Tage in der Pfalz nicht unbeschwert verlaufen, liegt nicht so sehr an den Menschen in Bergzabern. Sicher, die Idylle in dem schönen Kurort ist zuweilen trügerisch, die Fassade zeigt hier und da Risse. Doch die eigentliche Fassade errichtet Dieter. Er macht gute Miene, versucht sein Innerstes vor den anderen zu verbergen – mit beträchtlichem Erfolg.

Und doch: vor sich selbst fliehen kann er nicht. Immer wieder, in den harmlosesten Alltagssituationen, überwältigen ihn seine Erinnerungen. Das freundliche Geplauder bei Verwandtenbesuchen vermischt sich in seinem Kopf urplötzlich mit Erlebnissen aus dem Krieg. Das harmlos-vergnügte Spiel mit den Kindern im Schwimmbad geht unvermittelt in surreale Gewaltphantasien über.

In Bergzabern erlebt Dieter eigentlich nichts von Belang –  vielmehr: alles Belangvolle ist bereits geschehen, lange bevor er hier eintraf. Joachim Geil beschreibt Dieters Befindlichkeit, er beschreibt einen tief traumatisierten Soldaten. Und er tut es, indem er alle Register zieht. Gleich zwei Erzähler berichten über Dieter: der eine auf der Höhe der Zeit, allwissend, der andere eine Generation später, Ahnenforschung betreibend, aus der historischen Distanz die Dinge rekonstruierend.

Abrupt wechseln die Erzählperspektiven und Schauplätze, mal beobachtet der Autor seinen Protagonisten von außen, mal dringt er in sein Innerstes ein, immer wieder gibt es Rückblenden, innere Monologe, scheinbar dokumentarische Einsprengsel in Gestalt von Feldpostbriefen. So virtuos diese Erzähltechniken sind, sie geraten nie zum artistischen Selbstzweck. Stets dienen sie dazu, Dieters Traumatisierung begreiflich, anschaulich zu machen. Und sie steigern die Intensität der Darstellung, die Spannung. Denn die Frage, die über allem schwebt, lautet natürlich: Was nur hat dieser junge Mann erlebt, was ist geschehen?

Joachim Geil lässt sich – auch dies dramaturgisch glänzend gestaltet – bis zum letzten Drittel seines Buches Zeit, um das Geheimnis zu enthüllen. Dann schildert er auf wenigen Seiten, was sich ereignet hat: wie den betrunkenen Kameraden aus Dieters Kompanie ein russisches Mädchen in die Hände fällt, wie sie eine fürchterliche Vergewaltigungsorgie veranstalten. Eher widerstrebend fügt sich auch Dieter dem Druck der Gruppe. Doch als er schlussendlich an die Reihe kommt, macht er eine bestürzende Entdeckung und fasst einen ungeheuerlichen Entschluss – ohne noch groß zu überlegen und ohne dass die anderen davon etwas mitbekommen. Was Joachim Geil hier auf wenigen Seiten in krassem Realismus schildert, ist eine schwer erträgliche, peinigende Lektüre. Sie erklärt alles – und hinterlässt doch eine fundamentale Ratlosigkeit.

„Maschenka ist erschossen worden. Umgekommen im Krieg, in Malaja Irgendwas. Der Krieg ist kein Kurkonzert. Der Krieg ist kein Wunschkonzert, obwohl das Wunschkonzert oft das Einzige ist, woran man sich mit den gespitzten Ohren der Kameradenseele halten kann. Wenn sie singt oder er. Am Radio. Und zu jedem gehören zwei Ohren, Ohrenpaare verharren und Augenpaare kreisen. Im Bunker eingesperrt, weil der Iwan draußen tobt. Was sind Kameraden anderes als zugeknöpfte Augenpaare, kreisende Kragenknöpfe im Bunker, im Graben, auf der Rollbahn, aufsitzen, absitzen, fallen, vornüberkippen? Wenn du erst mal tot bist, dann lernste ne Menge dazu. Sie hat mich gewaschen, und ich hab sie erschossen. Warts ab. Erschießen, was du liebst. Warts ab. Hab sie alle erledigt. Wirst sehen. Denkt ihr, ich mache das mit Absicht?“

Dieters Lage ist fatal: Über das, was er erlebt und getan hat, wird er wohl niemals sprechen können – nicht mit seinen Kameraden an der Front, schon gar nicht mit den Menschen in Bergzabern. Er bleibt allein, traumatisiert. So kann es gehn im Krieg – oder, wie man heute sagt, in kriegsähnlichen Zuständen.

Manch einer mag Joachim Geils Debütroman mit Skepsis zur Hand nehmen. Was will uns ein 1970 geborener Autor, der nichts als Frieden kennt, über den Krieg erzählen? Muss man denn nicht dabei gewesen sein? Nein. Die Literaturgeschichte kennt unzählige Beispiele, die dieses Vorurteil eindrucksvoll widerlegen. Joachim Geils Roman reiht sich da würdig ein.

Joachim Geil: Heimaturlaub. Roman. Steidl Verlag Göttingen 2010, 290 Seiten


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